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39/2020
 

Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf, sie verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit; sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles.

1. Korinther 13,4–7


Im heutigen Bibeltext fordert Gott uns unter anderem dazu auf, dem Mitmenschen unsere Liebe nicht zu entziehen, wenn sein Verhalten böse oder ungerecht, also nicht liebenswürdig ist. Wir sind manchmal schnell mit anderen fertig und kehren ihnen erbittert unseren Rücken zu, wenn wir von ihrem Fehlverhalten und ihren Sünden erfahren.

Henri Nouwen, ehemaliger Professor für Soziologie und Pastoraltheologie an verschiedenen Universitäten in den USA, gab mit 54 Jahren seinen Beruf auf, um in den letzten zehn Jahren seines Lebens mit Menschen mit Behinderungen in der Arche-Bewegung zusammenzuleben und sie seelsorgerlich zu begleiten. In seinem Buch Höre auf die Stimme der Liebe beschäftigte ihn die Frage, ob Menschen, die alle seine Seiten kennen, einschließlich seiner verborgensten Gedanken, ihn wirklich lieben würden. Oft sei er versucht zu glauben, man liebe ihn nur so lange, wie man einige seiner Seiten nicht kennt. Er fürchtet, die Liebe, die man ihm schenkt, sei an bestimmte Bedingungen geknüpft. Und dann sage er sich: Wenn sie mich wirklich kennen würden, würden sie mich nicht lieben.

In der Bibel habe ich das Wort „liebenswürdig„ nicht gefunden und „liebenswert„ nur ein einziges Mal (Phil 4,8). Was kann man daraus schließen? Die Bibel macht uns bewusst, dass wir alle auf die Liebe Gottes angewiesen sind, weil wir immer wieder sündigen und versagen. Aber sie zeigt uns auch, dass wir alle Gottes Kinder sind und er uns seine Liebe gerade unserer Sünde wegen schenkte.

Kürzlich schenkte mir mein Enkelsohn das Buch Erzähl mir dein Leben. Ein Fragebuch an Opa und Oma. Ich bin froh, dass auf den leeren Seiten keine Fragen nach meinem Versagen, meinen Schandtaten und Sünden vorkommen. Ich kann also über das Gute und Positive in meinem Leben berichten. Mit solch gnädigem Blick sollten wir auch unserem Nächsten begegnen.

Joachim Hildebrandt


© Advent-Verlag Lüneburg


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