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13/2020
 

Da antwortete Hiob und sprach: Ja, ihr seid die Richtigen, mit euch wird die Weisheit sterben!

Hiob 12,1–2


Der Literaturnobelpreisträger Elias Canetti (1905–1994) schrieb ein kleines Büchlein, in dem er 50 typische Charaktere porträtierte. Natürlich übertrieb er bei der Darstellung dieser Charakterbilder. Aber er verstand es meisterhaft, das Wesentliche seiner Figuren satirisch zu skizzieren. Da gibt es den „Ohrenzeugen„, den „Tränenwärmer„, die „Granitpflegerin„ und den „Schönheitsmolch„ – amüsant zu lesen. Ein Charakterbild weckte mein besonderes Interesse: der „Gottprotz„. Dieses Kapitel ist für uns Christen nicht sehr schmeichelhaft. Vielleicht ist es aber hilfreich, wenn uns ab und zu ein Spiegel vorgehalten wird, in dem wir unsere Wirkung auf Außenstehende betrachten können.

„Der Gottprotz muss sich nie fragen, was richtig ist, er schlägt es nach im Buch der Bücher. Da findet er alles, was er braucht. Da hat er eine Rückenstütze. Da lehnt er sich beflissen und kräftig an. Was immer er unternehmen will, Gott unterschreibt es … Eine schwankende Antwort ist nicht zu gebrauchen. Für verschiedene Fragen gibt es verschiedene Sätze. Es soll ihm einer eine Frage sagen, auf die er keine passende Antwort fände.„ Der Gottprotz ist also ein religiöser Angeber; die Bibel ist ihm eine Art Universallexikon, das über alles Auskünfte erteilt. Sie verleiht ihrem Kenner eine einzigartige Überlegenheit.

Der Gottprotz erinnert mich an die Freunde Hiobs, die mit ihren gescheiten Argumenten seine Qual noch vergrößern. Hiob ist enttäuscht, weil sie ihn in seiner Not nicht wirklich verstehen. Für sie ist klar: Wer so leidet, muss die Schuld bei sich suchen. In ihrer Theologie ist für eine andere Sichtweise kein Platz.

Seit Hiobs Tagen sind die „leidigen Tröster„ (Hiob 16,2) nicht ausgestorben. Sie wissen alles über den Anfang der Welt und über ihr Ende. Sie wissen sogar mehr, als in der Bibel zu finden ist! Dem großen englischen Naturforscher Isaac Newton wird man es noch nachsehen, dass er – so wie der irische Erzbischof James Ussher – die Erschaffung der Welt auf das Jahr 4004 vor Christus datierte. So kann man sich irren, obwohl man sich so sicher war!
Wir sollten misstrauisch sein gegenüber allen Frommen, die vorgeben, Gottes Plan und Handeln, seine Absichten und sein Wesen ganz genau verstanden zu haben.

Klaus Kästner


© Advent-Verlag Lüneburg


29/2018