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47/2019
 

Und er ging nach Jericho hinein und zog hindurch. Und siehe, da war ein Mann mit Namen Zachäus, der war ein Oberer der Zöllner und war reich.

Lukas 19,1–2


Unsere Berufsschule lag an der Hauptstraße unserer Kreisstadt. Wir saßen mitten im Unterricht, als uns die Botschaft erreichte, dass unser Staatsratsvorsitzender vorbeikommen sollte. Selbstverständlich verließen wir die Klassenräume und verteilten uns auf dem breiten Gehweg. Gespannt wartete ich mit den anderen auf Walter Ulbricht. Sein Gesicht war mir hinreichend aus der Zeitung bekannt. Nun hoffte ich, ihn leibhaftig zu sehen. Schließlich kam der erwartete Moment. Der Regierungskonvoi fuhr schnell an uns vorbei. Einige Mitschüler sagten nachher, sie hätten unseren obersten Genossen gesehen, doch mir war das Glück nicht vergönnt gewesen, „Spitzbart„ zu erblicken.

Stellen wir uns vor, Jesus wäre damals mit dem Auto durch Jericho gereist. Wir wüssten heute nichts über den Mann mit Namen Zachäus. Das wäre ein echter Verlust. Aber nicht nur diese Begegnung zwischen Jesus und einem Menschen würde in den Evangelien fehlen, viele andere auch.

Wir sind stolz darauf, rasend schnell von A nach B zu gelangen und Nachrichten mit Blitzgeschwindigkeit zu verschicken. Wer es heute nur noch auf Windeseile bringt, hat schon lange den Anschluss verpasst. Schienentrassen werden mit hohem Kostenaufwand ausgebaut, um die Fahrzeit von Berlin in eine andere Stadt um einige Minuten zu verkürzen. Wenn das kein Grund zum Feiern ist! Der Ausbau des schnellen Internets wird zur nationalen Aufgabe erklärt, um global weiter mithalten zu können. Es reicht nicht mehr aus, nur schnell zu sein. Nur den Schnellsten gehört die Zukunft.

Jesus hat bei Weitem nicht alle Menschen angesprochen, die am Straßenrand auf ihn warteten. Doch sein Schritttempo ermöglichte es ihm, den einen zu entdecken, dessen Herz auf ein Treffen mit ihm vorbereitet war. Jesus besuchte den Oberzöllner zu Hause, und aus dem Betrüger wurde ein Wohltäter.

Uns entgehen wertvolle Begegnungen, weil wir zu schnell durch das Leben eilen und auf uns wartende Menschen gar nicht wahrnehmen. Nein, wir wollen und können uns nicht immer auf Schrittgeschwindigkeit begrenzen, doch über Entschleunigung nachzudenken, wird mir selbst und anderen Gewinn bringen –versuchen wir es.

Wilfried Krause


© Advent-Verlag Lüneburg


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