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52/2018
 

Denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.

Lukas 2,7

Die Geschichte von Jesus und der Krippe ist uns scheinbar schon zu gut bekannt, sodass wir einige Ungereimtheiten leicht übersehen. Wie kann ein Nachfahre Davids in dessen Stadt kommen, ohne dass er einen fürstlichen Empfang erhält? Josef hätte nur sagen brauchen: „Ich bin der Sohn Elis, Sohn Mattats, Sohn Levis“, und jeder hätte ihm die Tür zu seinem Schlafzimmer weit aufgemacht! Außerdem war es im Orient eine Schande, einer schwangeren Frau keine Unterkunft anzubieten oder sie gar in ein Hotel zu schicken. Und warum ging Maria nicht einfach zu ihrer Cousine Elisabeth, die nur ein paar Kilometer weg wohnte? Schließlich wurde Jesus, entgegen der allgemeinen Vorstellung, nicht gleich bei der Ankunft in Bethlehem geboren, sondern es heißt: „Als sie dort waren, kam die Zeit, da sie gebären sollte.“ (Lk 2,6)

Wenn wir den Text von Krippenklischees befreien, entdecken wir, dass die Herberge nichts mit einem Hotel zu tun hatte. Es ist nicht das Wort, das wir z. B. beim barmherzigen Samariter finden (Lk 10,34), sondern es handelte sich um das „Obergemach“, das ebenso in Lukas vorkommt (22,11-12). Es beschreibt das Gästezimmer, das sich entweder auf der Terrasse oder hinter dem Gemeinschaftsraum befand. Das damalige Haus bestand nämlich aus zwei Zimmern: Eins war für den Gast (1 Kön 17,19) und eins für die Familie - inklusive einer Ecke für die Haustiere (1 Sa 28,24), die mit ihrer Wärme das Haus heizten und gleichzeitig vor Dieben und wilden Tieren geschützt waren.

In der Zeit war das Gästezimmer also belegt, und so musste das junge Paar mit der Gastfamilie in einem Zimmer schlafen. Musste? Nein, durfte! Jesus bekam einen Ehrenplatz - höher als alle Gäste. Matthäus bestätigt, dass Jesus in einem „Haus“, d. h. in der Privatsphäre einer Familie, geboren wurde (Mt 2,11). Jesus ist kein Gast, noch weniger ein unerwünschter. Er ist Teil der Familie! Hier besteht im Orient ein wesentlicher Unterschied. Trotz sprichwörtlicher Gastfreundschaft hat ein Familienmitglied immer einen höheren Rang als der ehrwürdigste Besucher.

So wurde Jesus als Ehrenbürger von Bethlehem geboren und so sollen wir ihn behandeln. Auch wir sind alle beschäftigt, sozusagen „besetzt“. Kein Raum für Jesus? Dann lasst uns ihn in uns - nicht bei uns - aufnehmen! Ihm soll der wärmste Platz unseres Heims gehören, und das ist unser Herz.

Sylvain Romain


© Advent-Verlag Lüneburg


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